Donnerstag, 23. Mai 2013

Addicted to Graphic Noir

Mindestens 17 Morde, Nekrophilie, Kannibalismus: Jeffrey Dahmer, das "Monster von Milwaukee", hat den Medien alles geliefert, was sie für den Horror der Massen benötigten. Der Zeichner Derf Backderf war ein Schulfreund Dahmers und hat sein Erschrecken über dessen Taten in einer beeindruckenden Graphic Novel verarbeitet. "Mein Freund Dahmer" ist eine sich aus Erinnerungen, Interviews und aufwendiger Recherche speisende semidokumentarische Annäherung an das Kind und den Teenager Jeffrey Dahmer. Sie zeigt, wie aus einem verlachten Außenseiter ein dauerberauschter Freak wird, dem niemand ein Rettungsseil zuwirft, an dem sich das verhaltensauffällige, an seinen perversen Fantasien leidende Kid hätte festhalten können. Niemand kommt als Monster zur Welt, auch Jeffrey Dahmer tat dies nicht, wie Backderfs psychologisch glaubwürdige Rekonstruktion zeigt. Eine Rekonstruktion, in der die Trauer um das entgleiste Leben des Ex-Kumpels ebenso spürbar ist wie das Mitleiden mit den Angehörigen der Mordopfer. "Time" zählte "Mein Freund Dahmer" zu den wichtigsten Sachbüchern des Jahres 2012. Nach der Lektüre weiß man, warum.

Dienstag, 21. Mai 2013

La musique de Montale XXXVII

"Mitten auf der Rue Sainte-Françoise vor dem 'Treize-Coins' wusch ein gewisser José sein Auto, einen Renault 21 in den Farben von Olympique Marseille. Unten blau, oben weiß. Mit passenden Wimpeln am Rückspiegel und dem Fan-Schal auf der Heckablage. Drinnen Musik. Die Gipsy Kings. 'Bamboleo', 'Djobi Djoba', 'Amor, amor' ... The Best of.
Der Straßenarbeiter Sicard hatte den Hydranten am Rinnstein für ihn aufgedreht. José hatte, wenn er wollte, das Wasser der ganzen Stadt zur Verfügung. Ab und zu kam er an Sicards Tisch, setzte sich und trank einen Pastis, ohne seinen Wagen aus den Augen zu lassen. Als sei er ein Sammlerstück. Aber vielleicht träumte er auch nur von dem Pin-up-Girl, das er darin zu einer Spritztour nach Cassis einladen würde. Seinem zufriedenen Lächeln nach zu urteilen dachte er jedenfalls nicht ans Finanzamt. Und José nahm sich Zeit."



Montag, 20. Mai 2013

La musique de Montale XXXVI

"Ihre Hand streichelte meinen Oberschenkel. 'Nimmst du mich mit zu dir?'
'Ich bringe dich wieder nach Aix. Es ist besser für uns beide. Ich bin nur ein alter Trottel.'
'Ich mag alte Trottel auch.'
'Vergiss es, Leila. Finde jemanden, der gescheiter ist. Und jünger.'
Ich sah starr auf die Straße vor uns. Wir tauschten nicht einen Blick. Leila rauchte. Ich hatte eine Kassette von Calvin Russell eingelegt. Er war in Ordnung. Genau das Richtige zum Fahren. Ich wäre quer durch ganz Europa gerollt, nur um die Abzweigung nach Aix nicht nehmen zu müssen. Russell sang 'Rockin' the Republicans'. Leila stoppte die Kassette ohne ein Wort, bevor er 'Baby I Love You' in Angriff nehmen konnte."



Freitag, 17. Mai 2013

Letzte Sätze #112

"Im Morgengrauen ging er bereits über den Lungotevere, die Hände in den Taschen seiner Lederjacke, eine Zigarette zwischen den Zähnen. Er dachte an die Zukunft. Er dachte an Turco, der sich in Scrocchiazeppi verknallt hatte, und dachte an dessen Arbeitgeber, Baron Rosellini.
Wie viel so einer wohl wert war? Eine Milliarde, fünf, zehn?
Einen Versuch war es wert, oder nicht?"
Giancarlo De Cataldo, "Der König von Rom"

Donnerstag, 16. Mai 2013

Letzte Sätze #111

"Ob er glücklich war, wusste er nicht, weil Glück bedeutete, miteinander zu sein, und weil es bedeutete, nicht an Männer mit Mundschutz zu denken und Angst dabei zu haben, kurze Blicke zu spüren aus Angst und aus Hass. Doch wenn er sie sah, war er glücklich, ja schon. Es waren kurze Stunden in seinem Leben. Er war zufrieden."
Astrid Paprotta, "Die ungeschminkte Wahrheit"

Mittwoch, 15. Mai 2013

Letzte Sätze #110

"Ich bin Headhunter. Das ist nicht sonderlich schwer. Aber ich bin der beste von allen."
Jo Nesbø, "Headhunter"

Dienstag, 14. Mai 2013

La musique de Montale XXXV

"Ich stieg wieder in meinen Wagen und legte eine Kassette von Pinetop Perkins ein. 'Blues After Hours'. Für den Rückweg in die Stadt. Der Marseille-Blues gefiel mir immer wieder am besten.
Ich machte einen Umweg über die Küstenstraße. Über die hässlichen Stahlbrücken, die die euromediterranen Landschaftsberater abreißen wollten. In einem Artikel in der Zeitschrift 'Marseille' sprachen sie von 'der kalten, abstoßenden Wirkung dieser Welt aus Maschinen, Beton und vernieteten Balken unter der Sonne'. Idioten!
Der Hafen war großartig aus dieser Perspektive. Man verschlang ihn im Fahren mit den Augen. Die Piers. Frachter. Kräne. Fähren. Das Meer. Das Château d’If und die Frioul-Inseln in der Ferne. Das alles war Balsam für die Seele."



Freitag, 10. Mai 2013

Letzte Sätze #109

"'Es war ein zweiundneunzigjähriger polnischer Greis. Er hat sie plattgemacht, mit seinen beiden Vorderreifen.'
Lucio dachte nach, rollte den Rand der Flasche über seine Lippen.
'Ungefähr so', sagte er und ließ seine einzige Faust niedersausen.
'Ungefähr so', bestätigte Adamsberg.
'Wie der Gerber mit seinen Fäusten.'
Adamsberg lächelte und hob seine Geweihstangen auf.
'Genau', meinte er."
Fred Vargas, "Die dritte Jungfrau"

Donnerstag, 9. Mai 2013

Letzte Sätze #108

"'Schicksal', sagte er. 'Möglichkeiten, Begegnungen. Wechselfälle oder Umstände, die einen - zufällig oder nicht - einer Person oder Sache begegnen lassen.'
Er lächelte und ging zum Viehtransporter zurück, während er elegant die blaue Wanne schwenkte. Der Laster fuhr wieder an und bog um die nächste Kurve.
Adamsberg zog sein Heft aus seiner Gesäßtasche, schlug es auf und notierte, solange er sich noch daran erinnerte, Solimans letzte Definition."
Fred Vargas, "Bei Einbruch der Nacht"

Mittwoch, 8. Mai 2013

La musique de Montale XXXIV

"Mourads Stimme unterbrach mein Gegrübel. Sein Ton überraschte mich. Traurig. 'Das hat mein Vater früher auch gehört. Meine Mutter mochte es gern.'
'Warum? Hört er es nicht mehr?'
'Redouane sagt, es ist Sünde.'
'Der Sänger da? Lili Boniche?'
'Nein, die Musik. Dass Musik zu Alkohol, Zigaretten und Mädchen gehört. Zu all dem.'
'Aber du hörst Rap?'
'Nicht, wenn er da ist. Er ...'

 'Oh großer Gott, erbarme dich,
Lass mich meine Lieben sehen
und die Herzenspein vergehen ...'

 Jetzt sang Lili Boniche 'Alger, Alger'."

 
 

Montag, 6. Mai 2013

La musique de Montale XXXIII

"Sie spielten mir die Fonky Family vor, junge Leute aus dem Panier und Belsunce - die bei den Bad Boys aus Marseille mitgemacht hatten - und die Band Troisième Œil, die direkt aus den nördlichen Vierteln entsprungen war. Rap war wahrhaftig nicht mein Ding, aber ich war immer wieder verblüfft, was er zu erzählen hatte. Die treffsicheren Worte. Die Qualität der Texte. Sie sangen von nichts anderem als dem Leben ihrer Kumpel auf der Straße oder im Knast. Auch davon, wie leicht es sich starb. Und von den Jugendlichen, die in der Psychiatrie endeten. Eine Wirklichkeit, mit der ich jahrelang zu tun gehabt hatte."
 
 

Sonntag, 5. Mai 2013

La musique de Montale XXXII

 "Als er gegangen war, setzte ich mich wieder an die Bar. Trank mit dem einen oder anderen und natürlich mit Hassan, der keine Runde ausließ. Ich lauschte den Gesprächen. Und der Musik. Nach der offiziellen Stunde für den Aperitif spielte Hassan jetzt Jazz statt Ferré. Er suchte die Stücke sorgfältig aus. Als ob er den richtigen Ton für die jeweilige Stimmung treffen wollte. Der Tod zog sich zurück, sein Geruch. Und kein Zweifel, ich bevorzugte den Anisgeruch.
'Ich ziehe den Anisgeruch vor', hatte ich Hassan zugerufen.
Ich begann, langsam betrunken zu werden.
'Klar.'
Er hatte mir zugezwinkert. Ganz Komplize. Und Miles Davis hatte 'Solea' angestimmt. Das Stück verehrte ich. Seit Lole mich verlassen hatte, hörte ich es nachts pausenlos.
'Die soleá', hatte sie eines Abends erklärt, 'ist das Rückgrat des gesungenen Flamenco.'"
 
 

Samstag, 4. Mai 2013

Letzte Sätze #107

"Er setzte mir die Spitze des Schraubenziehers auf den obersten Punkt des Schädels.
Und ich sah - die beiden Siebener, die aufeinandertreffen, und wieder geschieht es, immer wieder, Stiefel auf Oberschenkeln, ein Schlüpfer, der an einem Baum baumelt, hochgeschobene BHs, ausgeweidete Bauchhöhlen und Brüste, eingeschlagene Schädel (...) ich stehe vor der Tür und klopfe, die Schlüssel zu Tod und Hölle und zum Mysterium der Frau, und ich weiß, dies ist der Grund, warum Menschen sterben, dies ist der Grund, warum Menschen, 1977, dies ist der Grund, und ich sehe ...
Er schlug zu.
... keine Zukunft."
David Peace, "1977"

Freitag, 3. Mai 2013

Letzte Sätze #106

"Adamsberg ging langsam den Boulevard hinauf und stellte sich vor, wie in Kiseljevo die Baumstümpfe um das Grab verfaulten.
Wo werden sie wieder wachsen, Peter?"
Fred Vargas, "Der verbotene Ort"

Donnerstag, 2. Mai 2013

Letzte Sätze #105

"Macquart schaltete das Radio aus.
'Du hast dich richtig entschieden, als du zu mir kamst. Schade, dass du deiner Idee nicht konsequent gefolgt bist.' Dann, mit einem nicht zu deutenden dünnen Lächeln auf den Lippen: 'Am Ende siegt immer das Recht. Von kleinen Ausnahmen abgesehen.'"
Dominique Manotti, "Roter Glamour"

Mittwoch, 1. Mai 2013

Letzte Sätze #104

"Ich will Dir etwas sagen, und vielleicht ist dies überhaupt das letzte Mal, dass ich dem Drang nachgebe, meine Gedanken oder irgend etwas, was mich betrifft, schreibend zu veräußern: Es gibt einen sogenannten primitiven Stamm in der Südsee, bei dem die Eltern ein unerwünschtes Kind gleich nach der Geburt in der Wildnis aussetzen, und das will mir immer noch humaner erscheinen als
(Hier endet die Seite. Weitere Briefbögen mit einer Niederschrift sind mir nicht zugänglich geworden.)"
Helga Riedel, "Ausgesetzt"