Marseille: Die
Gangsterhauptstadt Frankreichs lockt in diesem Jahr als Kulturhauptstadt
Europas die Touristen. Ein Geheimtipp für Liebhaber war die Hafenmetropole am
Mittelmeer schon immer. Wer sie wirklich verstehen will, sollte vielleicht die
Romane von Jean-Claude Izzo lesen.
„Woher man auch kommt, in Marseille ist man zu Hause“,
schreibt Jean-Claude Izzo. Der Mann muss es wissen, denn Marseille war seine
Stadt. Hier wurde er 1945 geboren, hier starb er im Jahr 2000 – dazwischen lebte
und liebte er Marseille. Marseille, das war für Izzo, dessen Vater
italienischer Herkunft war und dessen Mutter aus Spanien stammte, „ein Hafen der Exilanten“, eine „offene Tür“,
ein Ort für Toleranz und Menschlichkeit, kurz : „Marseille ist meine
Weltkultur.“
Montale, der wie Izzo einer Migrantenfamilie entstammt, ist ein Mann der Straße. Ein Flic, der seine Herkunft aus dem ärmlichen Panier-Viertel, dem „alten Herzen von Marseille“, nicht vergessen hat. Auch nicht, dass er als Jugendlicher hier mit Freunden selber ein paar krumme Dinger gedreht hat. Und dass er Verständnis aufbringt für die gegen ihr gesellschaftliches Abseits aufbegehrenden Jugendlichen der Vorstädte, bringt ihn natürlich in Konflikt mit dem Polizeiapparat, bis er schließlich den Dienst quittiert …
Die „Marseille-Trilogie“ ist spannende, temporeiche,
glänzend geschriebene Kriminalliteratur in der Tradition von Autoren wie
Leonardo Sciascia und dem französischen Neo-Polar Jean-Patrick Manchettes. Sie
ist aber auch ein Reiseführer in ein Marseille jenseits der über die Stadt
wachenden Notre-Dame de la Garde, „die tagsüber in der Sonne und nachts unter
den Scheinwerfern glänzt“. Mit Montale flaniert der Leser nicht nur am Alten
Hafen entlang und schlendert über die Canebière, er steigt eben auch ins
Panier-Quartier empor. Jenes Viertel, das die Deutschen Izzo zufolge 1943 am
liebsten abgerissen hätten, „weil sie es wegen der engen Gassen nicht
kontrollieren konnten“.
Marseille ist für Izzo aber auch eine Stadt der Musik – mit
einer ganz eigenen Vielfalt der Genres und Stile. Eine Stadt, die
„multikulturell, multirassisch und zwangsläufig multimusikalisch“ ist, hat neben
Verdi und Mainstream-Pop eben auch Rap, Raï, Ragga ebenso wie brasilianische
Musik, Flamenco-Jazz und italienische Tanzmusik zu bieten. Auch die Montale-Romane
sind von einem vielgestaltigen Soundtrack unterlegt – und nicht von ungefähr sind
zwei Bände nach Musiktiteln benannt: „Chourmo“ ist ein Album der Marseiller
„Massilia Sound System“-Rapper, „Solea“
ein Stück von Miles Davis.
Der schon in den 80ern und frühen 90ern geplanten
Modernisierung Marseilles durch zugereiste Stadtplaner und einheimische Geschäftemacher
stand Izzo mehr als skeptisch gegenüber. Er tröstete sich damit, „den alten
Leuten zuzuhören, die erklären, dass dieses Großprojekt (…) nicht vorankommen
wird. Das macht der Wahnsinn dieser Stadt“. Deshalb wäre der literarische Sohn des alten
Marseille sicher nicht mit allem einverstanden gewesen, was unter dem Vorwand
des Kulturhauptstadtjahres abgerissen oder neu gebaut wurde. Und er hätte sich
geärgert, dass die Jugend der Vorstädte wieder mal von den gigantischen
Investitionen kaum profitiert.
Marseille wende dem Kontinent den Rücken zu, die Stadt schaue
stattdessen aufs Mittelmeer – das war Izzos Grundüberzeugung. Deshalb hätte er
dem spektakulärsten Neubau, dem neuen „Musée des civilisations de l’Europe et
de la Méditerranée (MuCEM, Museum der Zivilisationen Europas und des
Mittelmeers) seine Zustimmung wohl nicht völlig verweigert – unter einer
Bedingung: dass man aus dem Mittelmeer nicht „eine Grenze zwischen Orient und
Okzident macht, zwischen Morgenland und Abendland; und uns von Afrika und
Kleinasien abschnürt“.
Allerdings hätte er dem Marseille-Touristen ganz sicher
geraten, vor dem Besuch des dem mittelalterlichen Fort Saint-Jean gegenüberliegenden
Glasbaus sich zunächst mal im Panier und den anderen Altstadtquartieren treiben
zu lassen. Bei einem Pastis in einer der schlichten, aber authentischen Bars,
die man hier noch findet, hätte er dann gesagt: „Weißt du, Marseille muss man
in sich eindringen lassen.“
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