Koks statt Kommune
Sie waren die Guten, kämpften für die Revolution und wollten die Welt mit den Idealen des Pariser Mai beglücken. Zwei Jahrzehnte später ist in Dominique Manottis neuem Roman „Zügellos“ vom Geist der Revolte nichts übrig geblieben.
Während in Berlin die Mauer fällt, verlieren an der Seine
Alt-68er den letzten Rest der Unschuld. Versicherungsbetrug, Drogenhandel, Mord
– für Macht und Geld ist ihnen kein Mittel zu schmutzig. Agathe Renouard, die
Aktivistin, die einst von einem Genossen im Stich gelassen, von den Flics
kassiert und auf dem Revier vergewaltigt wurde, zieht im Jahr 1989 in den
obersten Etagen eines großen französischen Versicherungskonzerns die Strippen
und nimmt vor dem Hintergrund des sich öffnenden Eisernen Vorhangs die neuen Märkte im Osten
Europas in den Blick. Geld statt Gerechtigkeit, Koks statt Kommune, Schampus
statt Schaumwein lauten die neuen Koordinaten in Agathes Leben.
Und damit steht sie nicht allein: Im Frankreich der Ära
Mitterrand sind den regierenden Sozialisten nicht nur ihre Ideale
abhandengekommen. Auf der Jagd nach dem großen Geld überziehen politische
Karrieristen und Wirtschaftseliten das Land mit einem System von
Vetternwirtschaft und Korruption. Ein Milieu, dessen Verkommenheit sich
Dominique Manotti nach „Roter Glamour“ nun schon zum zweiten Mal in einem ihrer
rasanten Politthriller annimmt. „Zügellos“ heißt der Roman, der Platz eins der
Krimizeit-Bestenliste belegte.
Die Mitterrand-Jahre hat die heute 70-jährige Autorin als
Insiderin kennengelernt. Hinter dem Pseudonym Dominique Manotti verbirgt sich
Marie-Noëlle Thibault, die viele Jahre die Pariser Sektion der sozialistischen
Gewerkschaft CFDT leitete. Vom einstigen Hoffnungsträger der französischen
Linken enttäuscht und vom amerikanischen Noir-Autor James Ellroy inspiriert,
wandte sich die promovierte Wirtschaftshistorikerin der Literatur zu und
debütierte 1995 mit dem Band „Hartes Pflaster“, der im Milieu der in Frankreich
Sans-Papiers („Papierlose“) genannten illegalen Immigranten in Paris spielt.
Hart, realistisch, atmosphärisch aufgeladen, aber auch akribisch in
Bibliotheken und Archiven recherchiert, katapultierte dieser Roman Manotti auf
Anhieb an die Spitze der Thrillerautoren, die in Europa politische Stoffe mit
literarischem Anspruch verarbeiten.
Dominique Manotti schreibt
keine Serienromane, mitunter begegnet man bereits eingeführtem Personal aber
wieder. So auch in „Zügellos“, wo sie erneut Commissaire Daquin ermitteln
lässt, den Manotti-Fans schon aus „Hartes Pflaster“ kennen. Ein schwuler,
elegant gekleideter und Lebensgenüssen nicht abgeneigter Bulle, der allerdings
auch nicht zimperlich ist, wenn ein Verdächtiger nicht spurt. Vor allem aber
ein Bulle, der sich so schnell nicht einschüchtern lässt, wenn die Mächtigen
mit den Muskeln spielen. Genau das tun sie in „Zügellos“ wieder, als Daquin
seine Leute einer Drogenschwemme und dubiosen Immobiliendeals nachgehen lässt:
Pferderennställe gehen in Flammen auf, ein Auto wird in die Luft gejagt, ein
Lover Daquins ermordet – und der Kommissar selbst zu einem
„Hintergrundgespräch“ in den Élysée-Palast gebeten. Von dort führen die von
Koks gepuderten Spuren aber immer wieder zu Agathe Renouards
Versicherungskonzern…
„Zügellos“ zeigt Manotti auf der Höhe ihres Könnens. Ihr knallharter
Realismus beruht auf profundem Wissen und schaut hinter die Kulissen des
politischen Establishments – Manottis Romane sind eine Art ins Fiktive
transformierter Enthüllungsjournalismus. Wobei sie nicht den Fehler begeht, den
Unterhaltung suchenden Leser mit dokumentarischem Anspruch zu langweilen – das
würde das rasante Tempo des Romans nur stören. Auf der anderen Seite genießt
der Leser aber auch eine von Andrea Stephani kongenial ins Deutsche übertragene
Sprache, die an Klarheit und Prägnanz kaum zu übertreffen ist. Und weil die
Französin obendrein Witz hat und pointierte Dialoge schreiben kann, kommt zum
Erkenntnisgewinn das Lesever gnügen hinzu. Fazit: „Zügellos“ ist ein
Politthriller vom Feinsten – intelligent, spannend, amüsant und lehrreich. Besseres
können Krimifans beim Buchhändler derzeit nicht finden.
Dominique Manotti, „Zügellos“, Argument/ariadne, 286 Seiten,
18 Euro
(Nordsee-Zeitung, 2. November 2013, S. 8)
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